Verdrillt, verklärt, verkauft! Der Faktencheck zum EMV-Kabel-Hype!

CFW Kabel vs. Schiene

Es ist erstaunlich 🫤, wie eine geschickt inszenierte Marketingkampagne selbst erfahrene Installateure, Techniker und Ingenieure beeinflussen kann. Ein Paradebeispiel dafür ist der Erfolg einiger EMV-Kabel für Niederspannungsanlagen in der Schweiz.

Die Hersteller versprechen eine ganze Reihe beeindruckender Vorteile:
👉 überragende EMV-Eigenschaften
👉 uneingeschränkte parallele Verlegung
👉 Eliminierung von Induktionsströmen im Schutzleiter
und sogar die Möglichkeit, klassische Stromschienen vollständig zu ersetzen.

Doch wie viel steckt hinter diesen Aussagen?

In diesem Artikel räumen wir mit den Mythen auf 😉 und wir unterziehen das ganze einem Faktenckeck.


1. Warum Probleme lösen, die oftmals kein Problem sind?! Das Elektromagnetisches Feld und NISV-Grenzwerte

Die von Herstellern oft dramatisierten magnetischen Felder sind in der Praxis meist unkritisch, weil durch einfache Abstandsregeln die gesetzlichen und normativen Grenzwerte problemlos eingehalten werden können 🧐.

Die NISV in der Schweiz: Für Trafostationen an Orten mit empfindlicher Nutzung benennt die Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) einen Anlagegrenzwert von 1 Mikrotesla bei 50 Hertz. Als empfindliche Nutzung gelten zum Beispiel:

🛏️ Schlafzimmer
🏫 Schulräume und Kindergärten
🏥 Spitäler
💻 Büroräume mit Daueraufenthalt

Weitere Grenzwerte für elektromagnetische Felder werden in der NIN 2025 im Kapitel 7.10.4. für medizinisch genutzte Räume🩺 definiert. Diese dienen dem Schutz empfindlicher Diagnoseverfahren und gelten direkt am Patientenplatz:

  • Elektromyogramm (EMG): max. 0.1 µT
  • Elektroenzephalogramm (EEG): max. 0.2 µT
  • Elektrokardiogramm (EKG): max. 0.4 µT

Nun, da wir die Grenzwerte für magnetische Feldstärken (1 µT / 0,2 µT) kennen, werfen wir einen Blick darauf, wie stark verschiedene Systeme tatsächlich abstrahlen. 🧐

Praxiswerte sprechen eine klare Sprache: Eine Stromschiene in Sandwichbauform wie das System SIVACON LI mit einem Bemessungsstrom von 2000 Ampere unterschreitet den Wert von 1 Mikrotesla bereits bei einem Abstand von 150cm . Bei 390cm Abstand liegt die Feldstärke sogar unter 0.2 Mikrotesla.

Mit solch niedrigen Feldemissionen lässt sich nüchtern feststellen: Ein echtes Problem liegt in vielen Fällen schlicht nicht vor und es lohnt sich die effektiven Abständ zu prüfen!😉


2. Jenseits der 630 Ampere: Wenn das Wunder endet!

EMV-optimierte Kabel zeigen bei moderaten Stromstärken durchaus gute Resultate. Doch ab 630 Ampere kippt die Lage, denn:

  • Bei Strömen über 630 Ampere ist eine Parallelinstallation mehrerer Kabel notwendig
  • Die Symmetrie, die für die feldkompensierende Wirkung sorgt, geht dabei teilweise verloren
  • Eine exakt symmetrische Verlegung von Mehreren auf der Baustelle ist kaum realisierbar und wenn doch, nur mit erheblichem Aufwand.
  • Es existieren keine belastbaren Planungsgrundlagen zur magnetischen Flussdichte oder zur sicheren Vorhersage des EMV-Verhaltens solcher Parallelverlegungen

Die folgende Tabelle vergleicht unterschiedliche Stromschienentypen mit einem EMV-optimierten Mehrleiterkabel hinsichtlich der Feldabstrahlung bei typischen Stromstärken.

Vergleich zu EMV Grenzwerte Stromschiene und NISV Kabel (CFW)
Tabelle 1: Vergleich nennstromabhängige Abständen zu Einhaltung der NISV/NIN Grenzwerte

Die Vergleichstabelle zeigt deutlich🧐:
Bis etwa 630 Ampere bieten EMV-optimierte Mehrleiterkabel dank ihrer kompakten Bauform eine sehr geringe magnetische Feldabstrahlung und eignen sich besonders für platzkritische Installationen. Ab 630 Ampere übernehmen jedoch Stromschienen die Führung. Durch die enge Leiterführung und den sogenannten Proximity-Effekt entsteht eine natürliche Feldkompensation.

Am strahlungsärmsten sind Schienen wie der Typ SIVACON LD von Siemens mit symmetrisch aufgeteilter Leiteranordnung. Sie liefern selbst bei hohen Strömen und geringen Abständen hervorragende EMV-Werte. Die Abbildung veranschaulicht schematisch die Überlagerung der Magnetfeldlinien für das LD-System
mit doppelter Leiterkonfiguration, so dass sich niedrige Störfeldstärken ergeben.

Quelle: SIEMENS AG Handbuch Planung
Schienenverteiler-Systeme

Wer sich selbst vertieft mit der Thematik befassen möchte, kann dies gerne tun. SIEMENS stellt dafür ein kostenloses Online-Tool und Handbücher zur Verfügung:

Mit EMC Busbar können Sie die elektromagnetischen Felder der Stromschienensystem SIVACON 8PS (BD2, LD, LI und LR) berechnen.

Totally Integrated Power

Planungshandbuch für elektrische Energieverteilung
Technische Grundlagen von Siemens

* Berechnungsformel für magnetische Flussdichte

Legende:

B(d)= Magnetische Flussdichte in µT am Abstand d vom Kabel

D= Abstand zum Kabel in Meter (m)

B0= Maximale Flussdichte direkt am Kabel (in µT), skaliert mit Strom

a= Geometrischer Parameter (Abfallweite), typisch: 0,647 m

n= Abfallexponent, typisch: 2,97 – beschreibt die Steilheit des Feldabfalls

I= Strombelastung in Ampere (A)


3. Schutzleiter und Induktion – wirklich ein Vorteil?🔌

Hier kann man sich kurzfassen 🫡:
Hersteller von EMV-optimierten Kabeln werben gerne mit einem zentral geführten Schutzleiter, der Induktionsströme vermeiden soll. Ein angeblicher Vorteil gegenüber klassischen Stromschienen.

Doch in der Praxis sieht es anders aus. Die meisten modernen Stromschienensysteme nutzen das Gehäuse selbst als Schutzleiter, vollständig konzentrisch um die aktiven Leiter herum. Diese Bauweise sorgt nicht nur für eine effektive EMV-Kompensation, sondern bietet auch einen geschlossenen, niederimpedanten Rückstrompfad.

👉 Fazit: Tiefe Schutzleiterinduktion ist kein Alleinstellungsmerkmal . Stromschienen können das genauso. Oder besser.


4. Kurzschlussfestigkeit ?! Besonders kritisch bei reduziertem PE und Parallelinstallation ⚠️

Der Schutz gegen Kurzschluss ist ein zentrales Sicherheitskriterium jeder Starkstrominstallation. Stromschienen sind bauartgeprüft und verfügen über einen vollwertigen, konzentrischen Schutzleiter, häufig das Gehäuse selbst, mit klar definierter Kurzschlussfestigkeit.

Bei EMV-Kabeln zeigt sich ein anderes Bild: Einige Systeme verwenden einen reduzierten Schutzleiterquerschnitt. Wird dieser Querschnitt reduziert, muss der Nachweis der Kurzschlussfestigkeit (k²·S²) auf genau diesen kleineren Leiter geführt werden. Bei hohen Fehlerströmen kann das zu thermischer Überlastung oder unzureichender Abschaltung führen. Besonders kritisch wird es bei Parallelinstallationen, wie sie bei höheren Strombelastungen üblich sind. Hierzu enthält die NIN 2025 im Kapitel 5.2.3.5 ein eigenes Regelwerk.


Fazit:

🔛 Ein bisschen Abstand statt viel Aufwand

In vielen Anwendungen lassen sich die Grenzwerte für magnetische Felder bereits durch ausreichenden Abstand einhalten. Ganz ohne Spezialkabel oder zusätzliche Massnahmen.

🔌 Bis 630 Ampère sinnvoll

EMV-optimierte Mehrleiterkabel können bis etwa 630 Ampère eine sinnvolle Lösung sein, insbesondere in sensibler Umgebung oder bei begrenztem Platzangebot. In diesem Bereich überzeugt ihre geringe Feldabstrahlung. Zudem wirken in dieser Leistungsklasse die vorgeschalteten Schutzorgane (MCCB oder NH Sicherungen) häufig kurzschlussstrombegrenzend, was die Anforderungen an die Kurzschlussfestigkeit der Kabel zusätzlich reduziert.

🏭 Ab 630 Ampère: Stromschiene überlegen

Oberhalb von 630 Ampère verliert das Kabelsystem an Wirksamkeit. In der Praxis ist dann oft eine Parallelinstallation notwendig, welche sowohl die EMV-Vorteile reduziert als auch die Kurzschlussfestigkeit erschwert. Stromschienen bieten hier die robustere Lösung:
mit definierter Geometrie, geprüfter EMV- und Kurzschlussfestigkeit sowie einem vollwertigen Schutzleiter, der meist über das Gehäuse geführt wird.

💡Besonders bei reduzierten Schutzleiterquerschnitten ist bei Kabelsystemen auf eine sorgfältige Planung und einen korrekten Nachweis der Kurzschlussfestigkeit zu achten.


Wir hoffen das dieser Beitrag bei der Umsetzung komplexerer Energieversorgungsanlagen hilft. Unser TIP Team der SIEMENS Schweiz AG unterstützt sie gerne bei der Konzeptionierung.

Kontakt TIP Siemens Schweiz AG: tip.support.ch@siemens.com

Autor

Sebastian Gerber Leiter Niederspannung Siemens Schweiz AG

Sebastian Gerber
Head of Low Voltage

Siemens Schweiz AG
Smart Infrastructure
8047 Zürich, Schweiz

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